Östliche Weisheit für eine erfolgreiche Mediation  

Ich bin fasziniert von einem neuen Buch von Dr. Thomas Gartenmann, The Emperor’s Cupboard: Mehr Klarheit und Wirkung für Führungskräfte durch westliche Psychologie und östliche Weisheit ( https://amzn.eu/d/97RjItl). Der Autor widmet das Buch “dem inneren Kind in uns allen”, und das hat mich auf ein zentrales Thema aufmerksam gemacht, das sich durch seine Arbeit zieht. Das heißt, die Idee, dass die Klarheit, die wir alle suchen, um konkrete Errungenschaften in unserem Leben zu erreichen, entsteht, wenn wir den Geist eines Anfängers annehmen. In der Zen-Philosophie wird dies “Shoshin” genannt, eine Geisteshaltung voller Neugier, ein offenes Herangehen an die Welt, verbunden mit einer Abwesenheit von Vorannahmen und Vorverurteilungen.  

Wie viele Menschen, vor allem diejenigen, die bereits durch eine unangenehme Meinungsverschiedenheit mit jemandem aufgewühlt und verärgert sind, können von sich behaupten, diese Geisteshaltung zu haben? Die meisten von uns sind vollgestopft mit Urteilen, Überzeugungen und Vorannahmen. Und je älter wir werden, desto mehr verfestigen sich unsere Ansichten, so dass die für eine Lösung notwendige Aufgeschlossenheit nur schwer zu erreichen ist. Gibt es eine Möglichkeit, unsere Denkweise zu ändern? Und was können wir erreichen, wenn wir es für uns und andere schaffen?  

Den Becher leeren  

Eine der reizvollen Zen-Geschichten, die in Dr. Gartenmanns Buch erzählt werden, ist die von Nan-in, einem Zen-Meister, der in einer (etwas aus dem Ruder gelaufenen) Teezeremonie demonstriert, warum man durch die Reflexion, die mit der traditionellen Meditation einhergeht, “zuerst die Tasse leeren muss”. In der Mediation gibt es natürlich keine Zeit, um unter normalen Umständen zu meditieren, und so läuft die Entleerung der Tasse etwas anders ab. Der Mediator verwendet einen großen Teil des Prozesses darauf, alle Ideen, Gefühle, Ressentiments, Sorgen und Forderungen, die in den Köpfen der Parteien herumschwirren, so weit wie möglich zu “leeren”.  

Viele dieser Gefühle und Wünsche waren vielleicht lange Zeit verborgen, und es ist wichtig, sie auf eine sichere Art und Weise herauszuholen, sei es unter vier Augen oder vor der anderen Partei. Die Entleerungsphase öffnet die Tür, um den “Anfängergeist” zu fördern, in dem jede Partei eine gute Chance hat, die anstehenden Probleme aus einer anderen oder neuen Perspektive zu sehen und sich auf den Gedanken einzulassen, dass eine Lösung ganz anders aussehen könnte, als sie es sich vorgestellt hat.  

Wahrnehmungsänderung durch Reflexion  

In einer anderen Geschichte in Dr. Gartenmanns Buch zeigt eine Einsiedlernonne, die an ihrem Brunnen steht, ihren neugierigen Besuchern, wie sie, wenn sie sich genügend Zeit nehmen und in Ruhe darüber nachdenken, eine große Veränderung in ihrer Wahrnehmung bewirken können. Die Wahrnehmung dessen, was da ist oder was man für die Wahrheit hält, verändert sich und wandelt sich mit der Zeit. Die Nonne erklärt: “Das ist es, was man in der Stille und in der Meditation erlebt. Wenn man sich viel Zeit und Raum gibt, sieht man bis auf den Grund aller Dinge durch”.  

Dieses sanfte östliche Zen-Konzept ist das Herzstück der alternativen Streitbeilegung. Parteien, die in einen Streit verwickelt sind, brauchen Zeit und sie brauchen Raum. Zeit und Raum werden in der Mediation als hochgradig kalibrierte Werkzeuge eingesetzt, mit dem Ziel, einen positiven mentalen “Reset” für die Parteien zu erreichen.  

Zeit und Raum sind wesentliche Instrumente  

Der Raum ist in jeder guten Mediation gut durchdacht. Private Sitzungen sind jederzeit während des Prozesses möglich. Außerdem: die Möglichkeit, von einer sicheren, respektvollen und angenehmen Umgebung unter aufmerksamer, aber neutraler Anleitung zu profitieren. Der Raum muss im Voraus vorbereitet werden, um bestimmte psychologische Anforderungen zu erfüllen, z. B. dass die Parteien das Gefühl haben, im selben Team zu sein, während sie an einem runden Tisch sitzen, anstatt sich an einem langen Tisch in einem imposanten Konferenzraum gegenüberzustehen.  

Eine wirksame Mediation bietet diesen seltenen Luxus in einem hektischen Leben: die Zeit, die erforderlich ist, um jedes einzelne Element durchzuarbeiten, das die Parteien für ihren Streit verantwortlich machen könnten. Die Zeit wird beiden Seiten gleichermaßen zur Verfügung gestellt; sie müssen das Gefühl haben, nicht in Eile zu sein und nicht unterbrochen zu werden. Der Prozess profitiert davon, dass er eher langsam und bedächtig als effizient und entschieden abläuft. Der Mediator ermutigt zum Nachdenken, zum Erforschen einer Idee und zum tieferen Eintauchen in Punkte, die in der Vergangenheit vielleicht übersehen worden sind. Stille, Pausen, Unterbrechungen – all das trägt zu dem sorgfältigen Tempo der Diskussionen bei, das in jede professionelle Mediationssitzung eingebaut ist.  

Schneller ist nicht besser  

Bei einer Mediation geht es nicht darum, eine Liste von Missständen abzuarbeiten und dann schnell eine Einigung zu erzielen. In der Tradition der weisen östlichen Philosophen vergangener Jahrhunderte gilt: Mit etwas, das dem klaren Verstand eines Anfängers nahe kommt, kann die Zeit genutzt werden, um einen weitaus besseren Weg nach vorne zu finden.  

  

Von Dania Shawwa  

Internationale Mediatorin  

IM-Campus, IMI, CEDR  

www.new-leaf-mediation.com