von Dr. Imke Wulfmeyer

Kein Gerichtssaal, keine Anwaltskanzlei, sondern das mit Laptop bestückte häusliche Sofa als Schauplatz eines professionellen Konfliktbeilegungsverfahrens? Noch vor einem Jahr wäre dieses Szenario belächelt worden. “Konfliktlösung aus dem Wohnzimmer ist der Trend des Jahres 2020”, formuliert es der Jurist Dr. Ulrich Eberhardt, Vorstandsmitglied von ROLAND Rechtsschutz, sehr treffend bei einem vom Bundesjustizministerium (BMJV) initiierten Erfahrungsaustausch zum Thema Mediation in Zeiten von COVID-19. „Und dieser Trend wird sich auch in 2021 fortsetzen.“

Hier überlagern sich zwei Effekte:

Zum einen hat die Nachfrage nach außergerichtlicher Konfliktbeilegung insgesamt zugenommen. Die Justiz steht seit Beginn der Pandemie vor einem Stau-Problem: Jeden Monat bleiben schätzungsweise 30 % der Fälle liegen, vor allem diejenigen, die einen großen Aufwand bedeuten. Prof. Dr. Reinhard Greger, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof und Träger des Sokrates-Preises für Mediation, spricht in diesem Zusammenhang von einer Situation von historischer Bedeutung für die Mediation. Dabei sind sich alle Expertinnen und Experten in der Diskussionsrunde des BMJV einig, dass dieser Markt bisher nur zu einem kleinen Teil erschlossen ist. Wie verschiedene Studien zeigen, sind es vor allem fehlende Kenntnisse der Verbraucher von alternativen Verfahren wie der Mediation, die sie im Regelfall den Rechtsweg einschlagen lassen. Oft haben die Konfliktparteien überhaupt keine Vorstellung davon, wie viel länger und teurer Gerichtsverfahren im Vergleich zur Mediation sind. Besonders in Branchen, die jetzt massiv vom Bearbeitungsstau der Justiz betroffen sind, hat in diesem Jahr ein Umdenken eingesetzt. Das betrifft z. B. die Bau- und Immobilienbranche mit ihren vielen extrem komplexen Verfahren. Hier etabliert sich die Mediation mehr und mehr als zeit- und ressourcenschonende Alternative zum oft jahrelangen Rechtsstreit.

Zum anderen ist die Live Online-Mediation während der Corona-Pandemie von einer Ausnahmeerscheinung zu einem festen und wichtigen Bestandteil der Mediationspraxis geworden. Beim Lockdown im März 2020 herrschten sowohl unter den Konfliktparteien als auch unter den Mediator*innen zunächst noch große Vorbehalte gegen Mediationssitzungen im virtuellen Raum. Die persönliche Begegnung, die Körpersprache, die Atmosphäre im Raum – wie sollte ohne diese Elemente eine empathische Kommunikation gelingen? Und dann erst der zusätzliche Stress mit der Technik! Verständlich, dass die spontane Reaktion auf den Lockdown oft darin bestand, die geplanten Mediationssitzungen zu verschieben, auf einen Zeitpunkt „nach Corona“. Doch je länger der Ausnahmezustand anhielt, desto mehr setzte sich eine Erkenntnis durch: Konflikte lassen sich nicht in Quarantäne schicken! Gerade in der Krise, wenn die Konfliktparteien mit finanziellen Problemen und Zukunftsängsten zu kämpfen haben oder sich ausgerechnet im akuten Trennungs- oder Familienkonflikt nicht aus dem Weg gehen können, eskalieren sie nur noch mehr. So war es oft der Druck eines unhaltbaren Zustands, der die Medianden veranlasste, ihre Vorbehalte über Bord zu werfen und dem virtuellen Setting eine Chance zu geben. Als die Erfahrungen sich dann als durchweg positiv entpuppten, war der Siegeszug der Live Online-Mediation nicht mehr aufzuhalten. Im Rahmen der Befragung des BMJV antworteten 90 % der Mediator*innen dahingehend, dass sie jetzt „mehr“ oder sogar „viel mehr“ Online-Mediationen als vor der COVID 19-Pandemie durchführten. Dies ist vor allem beachtlich, weil die professionelle, „klassische“ Präsenzmediation bei Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln nie ausdrücklich verboten war.

Im virtuellen Raum professionelle Mediationen durchzuführen stellt besondere Anforderungen an Mediator*innen: Zusätzlich zu den mediativen Kompetenzen werden eine ausgesprochen hohe Aufmerksamkeit, fokussiertes, hochkonzentriertes Zuhören und natürlich ein souveräner Umgang mit den vorhandenen Kommunikationskanälen und den Möglichkeiten der Software verlangt.

 

Wenn Mediator*innen diese Qualifikationen mitbringen, eröffnen sich ihnen ganz neue Möglichkeiten der Berufsausübung: Sie können Mediationen auch dann professionell durchführen, wenn es einmal nicht möglich, nicht wirtschaftlich oder nicht erwünscht ist, dass die Konfliktparteien in einem Raum zusammenkommen. Das kann in einem Konflikt zwischen Geschäftspartnern aus verschiedenen Ländern ebenso der Fall sein wie in einem Erbschaftskonflikt, bei dem die Erben weit voneinander entfernt wohnen, bei einer Elder Mediation unter Beteiligung von Menschen mit Bewegungseinschränkungen oder bei einem Eskalationsgrad des Konflikts, der dazu führt, dass die Beteiligten sich zumindest am Anfang nicht begegnen wollen.

In all diesen Fällen ist empathische Kommunikation im virtuellen Raum gefragt. Ein fundiertes Training hilft, die Mediationskompetenz aus der klassischen Gesprächssituation in ein digitales Setting zu übertragen. So verlieren die Mediator*innen nichts von Ihrer Präsenz und können ihre Kompetenzen und Methoden der Mediation, Konfliktmoderation oder Verhandlungstechnik auch live online einbringen.

Die Live Online-Mediation ist gekommen, um zu bleiben – darüber herrscht heute Einigkeit. Jetzt liegt es an den angehenden und praktizierenden Mediator*innen, diese historische Chance zu ergreifen und im virtuellen Raum Brücken zu bauen –  ob nun zwischen Wohnzimmern, zwischen Chefetagen oder zwischen Nationen.

 

Die Autorin ist Leiterin der Mediationsausbildung CONSENSUS Campus, stellvertretende Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Familienmediation e. V. und nimmt regelmäßig am Web-Erfahrungsaustausch des BMJV zum Thema „Mediation in Zeiten von COVID-19“ teil.